sprecher:
mathias herrmann
musik:
peter böving
textfassung:
jürgen fischer
mastering, produktion:
peter böving
bühnenfassung:
premiere am 2.juni 1993 im prinz regent theater in bochum
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Zur grausamen Rache bleibt Distanz gewahrt
Von 25 Personen sind am Ende 14 tot. William Shakespeares frühes Drama "Titus Andronicus” schwappt über vor Brutalität. Stark auf äußere Effekte fixiert, galt es lange Zeit als unspielbar. Heiner Müller verlängerte die Blutspur in seinem Shakespearekommentar "Anatomie Titus Fall of Rome" bis in die Gegenwart. (...)
1984 ist Müllers bitterer Reflex auf Shakespeare in der Regie von Karge/Langhoff am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt worden. Im Prinz Regent Theater wurde die personenreiche Rachetragödie nun zu einem Monodram zusammengeschnürt. Ein Zugriff, der Müllers harsche Phantasie zu einem verästelten Konzentrat, zu einer verstörenden Klage über die anscheinend unausrottbaren, unheilvollen Weltläufte werden ließ.
Die vielgestaltige Geschichte um den Kampf zwischen Goten und Römern, um Machtgelüste, die keinen Augenblick vor Verstümmelung, Vergewaltigung und Mord zurückschrecken und sich in ihrer Automatik des Entsetzens fast den hartgesetzten Schnitten eines Comics annähern, wird schon bei Müller zeitrafferartig beschleunigt. Dramaturg Jürgen Fischer erarbeitete mit Regisseur Wolfgang Lichtenstein nunmehr eine Strichfassung, die die Konturen des Kommentars, der zwischen epischen und freischwingenden lyrischen Passagen pendelt, noch sinnlicher und stimmiger verknappt.
Doch der Mann des Abends ist weniger Titus als vielmehr der junge Schauspieler
Mathias Herrmann. Ob er von den Ungeheuerlichkeiten am römischen Hofe berichtet oder sich in das Assoziations-Gespinst Heiner Müllers hineintastet, ob stakkatohaft, ob mit ruhiger Sachlichkeit oder mit eruptiver Aufwallung, niemals verliert er ein notwendiges Maß an Distanz zu seinem anderthalb Stunden währenden Text. Ohne dabei jedoch jemals den Abstand bis zur Teilnahmslosigkeit erkalten zu lassen. Gelegentlich hochfächelnder Humor weht zudem wohltuend über die Massierung des Extremen.
Nur so ist es möglich, dass Scheußlichkeiten wie das kannibalische Banquett, das Titus auffährt, nicht zu grausam grotesken Episoden verkommen, sondern anteilnehmenden Schauder hervorzurufen vermögen. (...)
Müllers "Titus" in der spartanischen Bochumer Inszenierung verunsichert mit einem Ruf aus mythischen Tiefen, da Blut Blut soff, mobilisiert Abwehrkräfte durch ein Mittel, das Gewaltmenschen nur schwerlich zugänglich ist: die Macht einer nicht korrumpierbaren Poesie.
Werner Streletz,
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Das letzte Gericht
(...) Als Gastspiel des Prinzregent Theaters (...) zeigte das "Theater im Ballsaal" in Bonn "Anatomie Titus Fall of Rome". Dahinter steckt auch Shakespeare, das frühe Römerdrama "Titus Andronicus", doch in der Adaption von Heiner Müller, der sich seinen Reim darauf gemacht hat: "Ein Shakespearekommentar". Am Schauspiel Bochum fand 1985 auch die Uraufführung statt.
Dort wurden aber damals Segnungen der modernen Bühnentechnik durchaus nicht ausgeschlagen. Und anders als in dieser Ein-Personen-Spielfassung von Wolfgang Lichtenstein (Regie) und Jürgen Fischer wurde das rüde Stück noch nervend bebildert. Nichts davon hier: Mathias Herrmann war ganz auf sich und die leere Bühne gestellt. Er hat nicht "den Sitz der Seele mit dem Messer gesucht", sondern mit Worten.
Dabei ist bei Shakespeare, bei Müller nichts so wichtig, wie das Werkzeug zum Abtrennen von menschlichen Gliedmassen. "Im goldnen Abend Roms blüht das Theater, Tod als höchste Blüte und letzte Verwandlung": Danach bleiben im Original nicht viele übrig. Die Gotenkönigin Tamora, vom Feldherrn Titus Andronicus samt ihrem Volk nach Rom verbracht, frisst die morsche Stadt von innen her schlicht auf.
Auch im Wortsinne: Das letzte Gericht sind in Aspik ihre eigenen Söhne (die freilich selbst zuvor genauso gewütet haben), von Titus ihr serviert. Man weiß aus Heiner Müllers Erinnerungsbuch, wie assoziativ das alles von ihm gemeint ist Dritte Welt und die Nationalitätenprobleme und das Los derer, denen fremde Kultur aufgezwungen wird, wogegen sie sich blutig wehren. Gehirnwäsche: Bei der Bochumer Aufführung zogen die Goten einen Römer durch eine Grube, schon sprach er gotisch.
Diese Aufführung war nun etwas ganz anderes. Sie entbilderte. Sie schlug keine Arme ab, sondern sezierte Texte. Mathias Herrmann macht das sehr gut. Er strukturiert, hat viele Register, er behauptet sich gegen die Flut der wüsten Bilder. Das ist dabei Absicht: Was er tut, verhält sich zu Müllers Theater wie die Anatomie zum Operationstisch. Es fließt nicht mal Tomatensaft.
H. D. Terschüren,
Bonner Rundschau
Purpurstrom von warmem Blut
(...) Das Ergebnis: Ein excellenter Schauspieler hat sich vorgestellt, in einer Inszenierung, die nicht aufträgt, noch einmal an Farbigkeit und Emotion zurücknimmt, nachdem ja schon Müllers Bearbeitung eine "Anatomie" sein wollte. So wurde ein lakonisches Kammerspiel draus, das schmeckt wie ein Stück trockenes Brot. Aber es sind feine Zutaten darin. Auch kann man es gut vertragen, denn die Story selbst ist deftig und blutrünstig genug.
Ein gefundenes Fressen für einen Dramatiker, der die Welt in seinen Stücken mit Vorliebe als Schlachtfest zeigt und dabei nach eigenen Angaben den Kannibalismus der Lebenden dem Vampirismus der Toten, sprich dem Kapitalismus, der Hure der Konzerne, dem großen Rom vorzieht. "Zähl deine Tage, Rom!" Schon sind wir in Shakespeares Stück: "Stirb schneller Europa!" Schon sind wir in Müllers Dramen, die davon handeln, dass das Drama Europas längst nicht mehr stattfindet. Nur noch als ("Shakespeare)-Kommentar" lässt es sich aktualisieren. Was in diesem episch ausgestellten Glassarg noch den Deckel hochstemmen und die Geschichte wieder auswerfen könnte, trägt nicht mehr das entstellte und mittlerweile allzu offengelegte Gesicht des Sozialismus; es trägt inzwischen eine schwarze Maske und hört in diesem Stück auf den Namen: Neger.
Eine von Müller zwischen die Seiten seines publizierten Skripts gestreute Abhandlung aus einer Sammlung mit Bildern, Skulpturen und Texten aus psychatrischen Anstalten, der sogenannte "Exkurs über den Neger" wurde am gestrigen Abend denn auch dem Schauspiel als Motto vorangestellt. Was dann folgte, der Einstieg in den Shakespeare-Kommentar, sucht seinesgleichen auf der Bühne: Die erste Viertelstunde Text wurde von Mathias Herrmann ungestrichen und als pures Textmaterial heruntergespult. Eine Titus-Maschine (...). Auch Müllers Kommentar, so scheint es, findet nicht mehr statt, er wird seinerseits kommentiert. Und so flogen die Müllerschen Satzkeile wie leichte lakonische Täfelchen vorbei.
Das bleibt selbstverständlich nicht die ganze Zeit so. Der Text lässt aus, springt, kehrt zurück, der Schauspieler beginnt sich zu bewegen. Und doch bleibt jeder nicht nur textlich erkennbare, sondern auch interpretierte Rollenwechsel, jede Änderung in Tempo, Lautstärke, Rhythmus, bleibt jeder Schritt ein Ereignis in einem vor einer Nicht-Kulisse äußerst reduziert inszenierten Schauspiel. (...)
Nach Heiner Müller versteht man hauptsächlich über den Rhythmus. Wer will, kann sich hinterher Gedanken dazu machen. Nach dieser Inszenierung will man.
Michael Ertle,
Schwäbisches Tagblatt
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